ADHS verstehen – Warum es kein Krankheitsbild im klassischen Sinn ist
- exceedU

- 9. Okt.
- 3 Min. Lesezeit

ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) gehört zu den am häufigsten diagnostizierten psychischen Störungen weltweit. Gleichzeitig wird kaum eine Diagnose so kontrovers diskutiert. Während die einen ADHS als klar definierte neurobiologische Erkrankung verstehen, sehen andere darin vor allem ein Verhaltensmuster – eine Ansammlung von Symptomen, die auf unterschiedliche Ursachen zurückzuführen sind.
Was ADHS laut Wissenschaft beschreibt
Medizinisch betrachtet wird ADHS in den internationalen Klassifikationssystemen (DSM-5, ICD-11) als neuroentwicklungsbezogene Störung beschrieben. Typische Merkmale sind Unaufmerksamkeit, Impulsivität und Hyperaktivität. Die Symptome müssen bereits in der Kindheit auftreten und das tägliche Leben in mehreren Lebensbereichen beeinträchtigen.
Doch obwohl die Diagnose weit verbreitet ist, gibt es keinen eindeutigen biologischen Marker, der ADHS zweifelsfrei belegt. Neurowissenschaftliche Untersuchungen zeigen Unterschiede in Hirnregionen wie dem präfrontalen Kortex und in der Dopaminregulation – doch diese Variationen treten auch bei Menschen ohne ADHS-Diagnose auf.
Der Psychiater Dr. Gabor Maté, ein prominenter Verfechter des Trauma-informierten Ansatzes, bezeichnet ADHS als „eine Form der Stressanpassung, die in frühen Entwicklungsphasen entsteht“. Laut Maté sei ADHS keine Krankheit, sondern eine Antwort des Gehirns auf emotionale Überforderung – eine Perspektive, die im medizinischen Mainstream zwar kontrovers diskutiert wird, jedoch die Notwendigkeit psychosozialer Faktoren in der Betrachtung betont.
ADHS als Symptomkomplex
Viele Fachleute sprechen heute von ADHS nicht mehr als einheitlicher Störung, sondern als Symptomkomplex. Denn ähnliche Symptome können durch ganz unterschiedliche Faktoren entstehen:
Biologisch: genetische Dispositionen, Neurotransmitter-Ungleichgewicht
Psychologisch: emotionale Vernachlässigung, chronischer Stress, Trauma
Gesellschaftlich: ständige Reizüberflutung, Leistungsdruck, digitale Überlastung
Diese Vielfalt zeigt: ADHS beschreibt kein einzelnes Krankheitsbild, sondern ein Verhalten, das durch die Wechselwirkung von Umwelt, Biologie und individueller Entwicklung entsteht.
Medikamentöse Behandlung – Symptomlinderung, keine Heilung
Die gängigsten Behandlungen bei ADHS sind Stimulanzien wie Methylphenidat (Ritalin) oder Amphetamine. Studien zeigen, dass diese Medikamente kurzfristig helfen können, die Konzentration zu verbessern und Impulsivität zu senken.
Eine große Metaanalyse (Cochrane Review, 2021) kam jedoch zu dem Ergebnis, dass die langfristige Wirksamkeit dieser Medikamente begrenzt ist und mögliche Nebenwirkungen – Schlafprobleme, Nervosität, Appetitverlust – sorgfältig beobachtet werden müssen.
Psychologen betonen zunehmend, dass Medikamente nicht die Ursache, sondern nur die Symptome adressieren. „Ritalin verbessert die Aufmerksamkeit, heilt aber keine Aufmerksamkeitsstörung – weil diese im Kern keine Krankheit, sondern ein Verhalten ist“, erklärt der US-Neurowissenschaftler Dr. Russell Barkley.
Einfach erklärt: Warum ADHS kein „Defekt“ ist
Wenn man ADHS vereinfacht betrachten möchte, dann ist es keine Fehlfunktion, sondern eher eine andere Art, Informationen zu verarbeiten. Menschen mit ADHS nehmen Reize intensiver wahr, wechseln schneller zwischen Gedanken und reagieren emotional stärker.
Dieses Verhalten kann im modernen Alltag, der Struktur und Daueraufmerksamkeit verlangt, zur Herausforderung werden – in kreativen oder dynamischen Umgebungen dagegen zu einem Vorteil. Viele Menschen mit ADHS zeigen hohe Kreativität, schnelle Auffassungsgabe und ausgeprägte Empathie.
Der gesellschaftliche Kontext
In den letzten Jahren hat sich die Zahl der ADHS-Diagnosen – insbesondere bei Erwachsenen – deutlich erhöht. Laut einer Studie des Robert Koch-Instituts (2023) ist die Verschreibungsrate von Methylphenidat in Deutschland seit 2010 um rund 30 % gestiegen. Kritiker führen dies darauf zurück, dass gesellschaftlicher Druck, ständige Reizüberflutung und Überforderung häufiger zu Verhaltensmustern führen, die als ADHS interpretiert werden.
Die Psychotherapeutin Dr. Nora Volkow, Direktorin des US National Institute on Drug Abuse, fasst es so zusammen:
„Wir müssen aufhören, Menschen mit ADHS als defizitär zu sehen. Sie verarbeiten die Welt einfach anders – und das kann sowohl herausfordernd als auch wertvoll sein.“
Fazit
ADHS ist kein fest umrissenes Krankheitsbild, sondern eine Beschreibung von Verhalten, das auf viele verschiedene Ursachen zurückzuführen ist. Medikamente können Symptome mildern, greifen aber nicht die Wurzel an. Entscheidend ist, die individuelle Lebenssituation zu verstehen und Betroffene ganzheitlich zu unterstützen – mit Therapie, Struktur, Aufklärung und Akzeptanz.
Anstatt ADHS zu pathologisieren, sollte die Gesellschaft lernen, neurodiverse Verhaltensmuster als Teil menschlicher Vielfalt zu sehen.









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